Babys nicht schreien zu lassen, ist nicht nur eine unverzichtbare Säule bindungs- und beziehungsorientierter Elternschaft. Es ist für viele Menschen auch ein moralisches Gebot. Denn, frei nach Carlos Gonzàles: ‘Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht.’

Leider wird das ‘Bloß nie schreien lassen’-Gebot von vielen Eltern jedoch anders verstanden, als es gemeint ist – was häufig zu schlimmen Selbstzweifen und enormem Druck führt: ‘Sind wir etwa schlechte Eltern, weil unser Baby manchmal weint?’

Höchste Zeit also, einmal eindeutig darzulegen, was im bedürfnisorientierten Kontext mit Schreienlassen gemeint ist – und was nicht.

1. Der Ausdruck ‘schreien lassen’ beschreibt die bewusste Entscheidung, ein Baby oder Kleinkind alleine (!) weinen zu lassen. Hintergrund dieser Entscheidung ist ein Kinderbild, das davon ausgeht, dass satte gewickelte Babys keinen Grund zum Weinen haben und ihre Eltern durch ihren Protest erpressen oder manipulieren wollen. Das Schreienlassen ist also eine gezielte Erziehungsmaßnahme, durch die das Kind etwas lernen soll: alleine einschlafen zum Beispiel, oder dass Mama nicht immer springt, wenn sie gerufen wird.

2. Die Empfehlung, Babys schreien zu lassen, ist in westlichen Industrienationen weit verbreitet und tief verwurzelt. Eltern, die auf alle Signale ihrer Babys prompt, feinfühlig und angemessen reagieren, stehen deshalb oft unter Verdacht, ihr Baby zu verwöhnen und seiner Entwicklung zu schaden.

3. Der Appell an Eltern, ihre Babys nicht schreien zu lassen, fußt zum einen auf ethischen Überzeigungen, zum andern auf Erkenntnissen aus Hirnforschung und Entwicklungspsychologie, die zeigen: Babys bewusst weinen zu lassen birgt handfeste gesundheitliche Risiken. Auf ihr Weinen zu reagieren stärkt hingegen sowohl ihren Körper als auch ihre Seele.

Auch wenn es manchmal nicht so wirkt: Zwischen begleitetem Weinen und Alleine-Weinen liegen für ein Baby Welten!

4. Babys weinen niemals ohne Grund, auch wenn es manchmal so wirkt. Das heißt: Hinter jedem schreienden Baby steht ein unerfülltes Bedürfnis bzw. ein Schmerz, der in die Welt hinaus muss. Typische Gründe für Babyweinen sind Hunger, Trennungsangst, Sehnsucht nach Nähe, Langeweile und Reizüberflutung. Babys weinen signifikant weniger, wenn Eltern diese Bedürfnisse erkennen und erfüllen – im Idealfall schon an den leisen Signalen, also bevor Babys weinen.

5. Auch Weinen kann jedoch ein Bedürfnis sein: manchmal müssen Babys so ihren Stress loswerden, beispielsweise nach einer belastenden Geburt. Wir müssen unsere Babys also nicht um jeden Preis trösten oder durch Ablenkung vom Weinen abhalten – auf dem Arm eines vertrauten Erwachsenen auch mal weinen zu dürfen ist eine kostbare Erfahrung.

6. Es ist ein Mythos, dass ein bedürfnisorientiertes Familienleben zu nie weinenden Babys führt. Dazu spielt das angeborene Temperament eine zu große Rolle. Auch feinfühlige, zugewandte, bindungsorientierte Eltern können ein Schreibaby haben, das sich einfach nicht beruhigen lässt.

7. In jeder Familie gilt es, eine Balance der Bedürfnisse herzustellen. Insbesondere in Familien mit mehreren Kindern lässt es sich dabei oft nicht vermeiden, dass ein Baby auch mal alleine weint weil Mutter oder Vater gerade woanders noch dringender gebraucht werden. Bedürfnisorientierte Lösungen wie Tragen können helfen, das Auftreten solcher Situationen zu verringern, sie aber auch nicht ganz vermeiden. Eltern müssen sich keine Sorgen machen, dass solche Ausnahmesituationen ihrem Baby schaden. Entscheidend für die Bindung und das Urvertrauen ist, was das Baby tagtäglich im Alltag erfährt.

8. Es gibt in fast allen Familien einzelne Situationen, in denen das Baby schreit und nicht durch unmittelbaren Körperkontakt beruhigt werden kann – etwa im Auto, wenn das Baby in seinem Sitz weint und außer der Fahrerin beziehungsweise dem Fahrer niemand im Fahrzeug ist. Fest steht: eine solche Fahrt bedeutet für alle Beteiligten immensen Stress und es ist sicher eine gute Idee, ihr Auftreten so oft es eben möglich ist zu vermeiden (etwa, indem öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden). Gleichzeitig ist Autofahren für viele Eltern manchmal schlicht unvermeidlich, und dann dürfen sie sich darauf verlassen, dass ihr Baby keinen Schaden nimmt, wenn es in seinem Sitz weint und ‘nur’ mit der Stimme getröstet wird – es ist trotzdem nicht allein.

9. Babys brauchen Eltern, die auf sich und ihre Grundbedürfnisse ebenso achten wie auf die ihrer Kinder. Natürlich ist es optimal, bei besonders nähebedürftigen Babys etwa mit dem Duschen zu warten, bis eine andere vertraute Person das Kleine währenddessen auf den Arm nehmen kann. Aber manchmal ist das eben nicht möglich, und dann darf eine Mutter ihr Baby auch mal auf ein Handtuch im Bad legen und mit ihm Blickkontakt halten, während sie kurz duscht oder zur Toilette geht – auch wenn das Baby dabei weint. Das ist Selbstfürsorge, kein Schreienlassen!

10. Babyweinen kann verzweifelt machen – und aggressiv. Jedes Jahr sterben in Deutschland Babys, weil sie in einem Moment der Wut und Überforderung geschüttelt wurden. Spüren Eltern, dass sie das Schreien ihres Babys nicht mehr ertragen können, sollten sie es deshalb unbedingt an einem sicheren Ort legen, das Zimmer verlassen und wenn irgend möglich Hilfe holen, zumindest aber erst wieder zu ihrem Baby gehen, wenn sie sich dazu in der Lage fühlen, liebevoll mit ihm umzugehen. Natürlich ist eine solche Situation für kein Baby schön – aber sie ist manchmal schlicht notwendig, wenn die Verzweiflung zu groß ist und der stützende Clan fehlt. Auch das ist deshalb kein Schreienlassen – sondern eine wichtige und richtige Schutzmaßnahme.

Letztlich kommt es beim Schreienlassen wie bei fast allen Fragen des Elternseins auf die innere Haltung an. Babybedürfnisse nicht zu ignorieren ist kein Wettbewerb, sondern ein Herzensanliegen von immer mehr Eltern. Dabei manchmal den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden ist normal – wir sind alle Menschen, und Menschenbabys sind manchmal eine ganz schöne Herausforderung. Umso wichtiger ist, dass wir uns gegenseitig nicht verurteilen, sondern begleiten und unterstützen auf unserem bedürfnisorientierten Weg.