Als ich das erste Mal die Anleitung für ein so genanntes Schlaflernprogramm las, wurde mir schlecht. So schlecht, dass ich mich fast übergeben musste – und damals hatte ich noch nicht einmal ein Kind. Aber allein die Beschreibung, wie man das Kleine wieder und wieder weinend in seinem Bettchen zurücklassen und sein Flehen nach Nähe ignorieren solle, bescherte mir schlimmste Magenschmerzen und eine zugeschnürte Kehle.

 

Und ich war froh und dankbar, im Netz auf Alternativen zu solchen rigiden Schlaflernplänen zu stoßen. Meine beiden Töchter wurden dann Familienbettbabys, die ich niemals auch nur eine Minute bewusst schreien ließ – und ich bin mir sicher, ich bewege mich da bei meinen Leserinnen und Lesern in bester Gesellschaft. Babys und Kleinkinder nicht zu „Ferbern“, wie das Anwenden von Schlaflernprogrammen in kritischer Bezugnahme auf deren Erfinder Dr. Ferber häufig genannt wird, gehört für viele Eltern heute zu einem Selbstverständnis, auf das sie stolz sind. Wir sind die Guten! Wir lassen unsere Kinder nicht schreien!

Ich kann das verstehen. Ich kenne solche Gefühle auch. Und trotzdem beobachte ich mit einer gewissen Sorge den Trend, Eltern mit abschreckenden Texten und Videos von der Schlechtigkeit solcher Programme überzeugen zu wollen. Versteht mich nicht falsch: Ich habe selbst schon Artikel geschrieben, in denen ich auf die Gefahren von Schlaflernprogrammen hinwies. Und in jedem meiner Bücher steht ausführlich nachzulesen, warum ich vom so genannten kontrollierten Schreienlassen abrate. Ich zähle da ganz sachlich auf, warum Schlaflernprogramme bescheuert sind: Weil sie ein natürliches, altersangemessenes Verhalten als Störung definieren. Weil sie die Tatsache ignorieren, dass kleine Kinder kein Zeitgefühl haben. Weil sie großen Schmerz bedeuten und Verlassensängste heraufbeschwören können, die bis ins Erwachsenenalter nachwirken.

Ich kläre also auf, aber ich verurteile nicht. Ich gebe Eltern Entscheidungshilfen an die Hand, lege ihnen Alternativen dar, stelle meinen Standpunkt klar. Aber ich gebe ihnen nicht das Gefühl, schlechte Eltern zu sein, wenn sie ein Schlaflernprogramm in Erwägung ziehen.

Viele Menschen glauben, diese eher nüchterne Art der Aufklärung über Schlaflernprogramme reiche nicht aus. Man müsse die Menschen mitten ins Herz treffen, wie zum Beispiel mit diesem Video.
Ich verstehe die Intention dahinter, und auch die Beweggründe derer, die dieses Video fleißig teilen. Sie wollen diese Welt zu einem besseren Ort machen, an dem weniger Babys schreien müssen. Schon klar. Ich habe nur meine Zweifel, ob das so funktioniert.

Denn auch wenn es lauter Menschen berührt, die ihre Babys sowieso niemals schreien lassen würden – die Argumentationslinie darin ist eher fragwürdig. Schließlich wissen wir alle, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Dass sie andere Bedürfnisse haben, und andere Verhaltensweisen. Von Natur aus. Kein Erwachsener würde einfach so mal anderthalb Stunden schreien, selbst wenn er beständig Trost erhält. Babys tun das durchaus mal. Viele Erwachsene haben beim Schlafen gerne Platz und würden in einem Pucksack Angstzustände kriegen. Babys hingegen lieben Enge und Geborgenheit. Viele große Leute sagen, sie würden lieber in einem bequemen Kinderwagen liegen, als auf einen Rücken gebunden zu werden. Das sagt aber nichts darüber aus, wo sich Babys am wohlsten fühlen. Ich könnte diese Liste ewig fortführen. Es ist einfach so: Babys sind Babys, und Erwachsene sind Erwachsene. Und wie sich ein nachgespieltes Schlaflernprogramm für einen Erwachsenen anfühlt, sagt nichts darüber, wie es einem Baby dabei geht, das vielleicht mehr Training im Schreien hat, dafür aber kaum Selbstregulationsfähigkeiten und kein Zeitgefühl. Genau deshalb trifft so ein Video aber glaube ich die, die es erreichen soll, NICHT mitten ins Herz. Weil sie – zu Recht! – sagen: Das kann man doch gar nicht vergleichen!

Dazu kommt, dass viele Eltern äußerst empfindlich darauf reagieren, wenn andere Eltern ihnen ein schlechtes Gewissen machen wollen. Vor allem, wenn sie dabei von so einer scheinbar moralisch überlegenen Warte aus argumentieren: Also ich hätte bei meinem Kind ja niemals …
Was meint Ihr, wie viele wohlmeinende und ehrlich besorgte Krabbelgruppenmütter mir irgendwelche Anti-Impf-Pamphlete überreicht haben, als sie mitbekamen, dass meine Babys durchgeimpft werden? Ich habe auch schon Artikel zu den angeblichen Schäden früher Betreuung in meinem Briefkasten gefunden, und Flugblätter, die mir erklärten, wie schade es für meine Kinder sei, dass ich sie nicht vegan ernähre. Deswegen kann ich Euch aus eigener Erfahrung berichten: Solche ungebetenen Einmischungen fühlen sich unangenehm und übergriffig an. So, als traue man mir nicht zu, gute Entscheidungen für mich und meine Kinder zu treffen. Keine gute Basis, um mich zu überzeugen.

Ich bin mir deshalb sicher: Weder mit anklagenden Flugblättern noch mit dezent zur Geburt verschenkten „Schlafen und Wachen“-Ausgaben noch mit moralisch aufgeladenen Videos werden Eltern vom Ferbern abgehalten. Wie dann?

Ich glaube: Durch echte Anteilnahme. Wenn mir eine Mutter erzählt, dass sie jetzt auch bald mal so ein Schlaflernprogramm anwenden will, sage ich zuallererst: „Du musst wirklich sehr erschöpft sein. Das verstehe ich gut. Es IST ja auch wahnsinnig anstrengend mit so einem kleinen Baby.“ Und dann halte ich die Klappe und lasse die Mama erzählen. Von dem Baby und den Nächten und dem unfassbar anstrengenden Dauerstillen in den frühen Morgenstunden. Und dann sage ich vielleicht, dass es mir damals geholfen hat, nachts einfach nicht mehr auf die Uhr zu gucken. Und dass ich es praktisch fand, nachts nicht aufstehen zu müssen, weil meine Mädchen ja direkt neben mir schliefen. Meistens aber sage ich einfach: „Wenn du magst, nehme ich mal dein Baby, und du kannst schlafen.“ Denn das, so glaube ich, ist der beste Schutz vor Schlaflernprogrammen, den es geben kann.