Ich liebe Silvester: Das Zusammensein mit guten Freunden, das gemeinsame Zurückschauen und Nachvornblicken, der Zauber eines Jahres, das noch ganz frisch und unverbraucht vor uns liegt. Auf eins könnte ich in dieser letzten Nacht jedoch gut verzichten: Das Knallen und Zischen des Feuerwerks hat mir noch nie etwas gegeben. Für mich gibt es viele gute Argumente, auf Leuchtraketen, Knaller und Co zu verzichten: Die Umweltverschmutzung, den Stress, den die Knallerei für viele Tiere und Menschen bedeutet, die alljährigen Verletzungen durch Feuerwerkskörper, die nach dem Neujahrstag in der Zeitung stehen. Ich bin deshalb, wie zwei Drittel aller Deutschen, für ein Verbot des Verkaufs von Feuerwerkskörpern an Privatleute zum Jahreswechsel, und habe für mich noch nie auch nur einen Knallfrosch gekauft. Und trotzdem stand ich dieses Jahr kurz vor der Silvester an der Kasse und kaufte ausgerechnet: eine kleine Packung Silvesterfeuerwerkskörper. Wie passt das zusammen?

Ganz einfach: Ich bin Mutter, und damit nicht nur für mich und meinen eigenen Konsum zuständig, sondern auch – gemeinsam mit meinem Mann – für den unserer Kinder. Die ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse haben, die sich nicht unbedingt mit unseren decken. Zum Beispiel, wenn’s um Knallern geht: Für eins unserer Kinder ist es sehr wichtig, dabei in der Neujahrsnacht mitzmachen, zumindest ein bisschen. Und jetzt? Als Eltern haben wir verschiedene Möglichkeiten, auf diesen Wunsch zu reagieren. Wir könnten zum Beispiel das aus unserer Sicht unnütze und schädliche Knallern einfach verbieten. „Feuerwerk gibt es in unserer Familie nicht“ – zack, Ende der Diskussion. Das ist aber nicht unser Weg, bei gar nichts. Weil es uns wichtig ist, die Wünsche unserer Kinder ernst zu nehmen, und nicht einfach mit einer elterlichen Machtdemonstration wegzuwischen. Ernst nehmen und einfach verbieten gehen jedoch nicht zusammen. Also: Was könnten wir noch tun?

Wir können mit unserem Kind sprechen. Und unsere guten Argumente vorbringen: Die Geldverschwendung, die Umwelt, den Feinstaub, die Tiere. Grundsätzlich keine schlechte Idee. Nur: Meine Beobachtung ist, dass viele Eltern bei derlei Gesprächen einen so immensen moralischen Druck aufbauen, dass das Kind sich danach nicht nur nie wieder trauen wird, einen solchen Wunsch auch nur zu äußern – es wird sich sogar dafür schämen, sich je so etwas Verwerfliches gewünscht zu haben. Schließlich will kein Kind ein schlechter Mensch sein. „Aber so sind eben die objektiven Informationen“, sagen Eltern, die diesen Weg wählen, dann gern. Frei nach Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Doch es ist interessant, wann wir zum Stilmittel der schonungslosen Wahrheit greifen. Nicht dann nämlich, wenn es um uns selbst, unseren Alltag, unseren eigenen Konsum geht. Kaum ein Elternpaar konfrontiert sein Kind permanent mit „der ganzen Wahrheit“ daher, wo sein Schulranzen oder sein Fußball herkommt und unter welchen Bedingungen er hergestellt wurde. Oder die Kosmetik im Bad. Oder das Smartphone in unserer Tasche. Nein, die Keule mit der ganzen Wahrheit packen wir dann aus, wenn wir unser Kind davon abhalten wollen, sich etwas zu wünschen, das wir blöd finden. Und damit wird „die Wahrheit“, die wir so stolz für uns beanspruchen, oft nichts anderes als ein Druckmittel, ein Instrument zur Manipulation, weil wir uns besser fühlen, wenn unser Kind selbst einsieht, dass sein Wunsch falsch war, und ihn zurückzieht, als dass wir ihn mit elterlicher Macht verbieten. Dieses Vorgehen ist außerordentlich wirkungsvoll: Kinder wollen kooperieren, sie spüren Erwartungen und wollen ihnen genügen, und dazu gehört insbesondere die Erwartung, ein guter Mensch zu sein. Sie spüren, wie stolz es Mama und Papa macht, dass sie tapfer an den Feuerwerkskörpern im Supermarkt vorbeigehen, und hoffen, dass sie nicht merken, wie gerne sie trotzdem zumindest eine kleine Rakete hätten. Denn was würden Mama und Papa dann von ihnen denken? Also sagen diese Kinder „Ich will ja gar nicht knallern, wegen der Umwelt und der armen Tiere, und Geldverschwendung wäre es auch“, und die Eltern nicken gerührt: Mein Kind! So reif, so weise, so verantwortungsbewusst. Alles richtig gemacht!

 Meinem Mann und mir ist es wichtig, dass unsere Kinder ihr feines Gespür für ihre Bedürfnisse und Wünsche behalten und sich niemals für sie schämen oder schlecht fühlen – egal, ob sie sich nach Feuerwerkskörpern oder nach ganz bestimmten Schokobonbons einer Firma sehnen, die bei uns Eltern eigentlich auf dem Index steht. Im Gegenteil: Wir wollen, dass unsere Kinder ohne Angst oder Schuldgefühle beschreiben und benennen können, wonach ihr Herz sich gerade verzehrt – ohne dabei fürchten zu müssen, uns Eltern damit in irgendeiner Form enttäuschen zu können.

Formuliert mein Kind also seinen Wunsch nach Silvesterknallern, höre ich zunächst einmal einfach zu. Aufmerksam, geduldig, ehrlich interessiert, ohne irgendetwas zu bewerten. Die Knaller sind für dich das allergrößte? Das ist ja spannend. Was fasziniert dich daran? Was macht dir am meisten Spaß: Das Einkaufen, das Abschießen, die Explosion am Himmel? Der Knall, der Rauch, das Feuer, das Licht? Wie fühlst du dich dabei, was macht das Feuerwerk mit dir, was ist deine schönste Feuerwerks-Erinnerung? So kommen wir ins Gespräch, und die Augen meines Kindes beginnen zu leuchten, als es von den bunten Lichtern spricht und dem Reiz des Zündelns und Schießens in dieser besonderen Nacht. Ich muss daran denken, dass die Faszination fürs Spiel mit dem Feuer vermutlich so alt wie die Menschheit ist, ein uraltes Erbe, das in uns weiterwirkt, in manchen Kindern offensichtlich stärker als in anderen. Ich bin berührt von der Begeisterung meines Kindes, davon, wie tief es mich in seine Seele blicken lässt. Und es fühlt sich – all meinen guten Argumenten zum Trotz – falsch an, diese Leidenschaft nun zu töten mit meinen grauen Fakten über Feinstoffwerte und andere unschöne Feuerwerksfolgen.

Ich stelle mir vor, wie ich mich fühlen würde, wenn ich aus einer grandiosen Zirkungsvorstellung nach Hause käme, noch ganz bezaubert und beglückt von der atemberaubenden Show und mit nur einem Wunsch: zu meinem Geburtstag noch einmal Zirkuskarten zu bekommen. Und dann stelle ich mir vor, mein Mann würde entgegnen: Zirkus? Ist dir eigentlich klar, was für eine moralische Katastrophe das ist? Die Tierhaltung, der Energieverbrauch, der ganze Müll, den so eine Vorstellung produziert – und sowas soll ich dir zum Geburtstag schenken? All meine Freude, all meine Begeisterung wäre mit einem Schlag verschwunden. Ich würde mich schlecht fühlen, und schuldig, völlig unabhängig von der Richtigkeit seiner Argumente. Mein Mann würde in einem solchen Moment sein Bedürfnis danach, Recht zu haben, über unsere Beziehung und über meine Gefühle stellen – was er in Wirklichkeit natürlich niemals tun würde. Ebensowenig, wie er mit der Stirn runzelt, wenn ich ihn bitte, mir meinen Lieblings-Concealer vom Einkaufen mitzubringen, der in Plastik verpackt und garantiert nicht bio ist. Er tut es einfach. Weil er mich liebt.

Und weil ich mein Kind liebe, will auch ich ihm nicht das madig machen, was es glücklich macht. Gleichzeitig sehe ich mich auch in der Verantwortung, mit ihm darüber zu sprechen, warum es mir schwer fällt, Feuerwerks-Zeug zu kaufen – schwerer, als es mir fällt, ihm andere Wünsche zu erfüllen. Nicht mit dem Ziel, es umzustimmen. Nicht mit dem Wunsch, ihm meine Haltung als die moralisch bessere zu verkaufen. Sondern einfach, um mit ihm in Dialog zu treten. Also geht unser Gespräch weiter: Nachdem mein Kind mir geschildert hat, was es am Feuerwerk so liebt, erzähle ich ihm, was mich daran nervt. Ich fahre dabei bewusst keine großen Geschütze auf, spreche weder von Umweltkatastrophen noch von Milliardensummen, die anderswo so viel besser investiert wären. Stattdessen bleibe ich ganz bei mir: Ich mag die dicke Luft nicht. Den Müll, der in den ersten Neujahrstagen überall in den Straßen liegt. Mir tun unsere Kaninchen leid, die sich von der Knallerei jedes Jahr furchtbar erschrecken. Mein Kind hört aufmerksam zu, mit jener verständnisvollen Nachdenklichkeit, die mich in unseren Gesprächen immer wieder so fasziniert. Es hört zu, um zu verstehen, nicht um sich zu rechtfertigen oder sich zu verteidigen. Es weiß: Hier geht es nicht um gut oder böse, schwarz oder weiß. Hier geht es darum, dass verschiedene Menschen verschiedene Dinge unterschiedlich sehen und empfinden. Und das ist okay.

„Wir könnten ja“, sagt es schließlich. „Nur ein ganz kleines bisschen Feuerwerk kaufen. Und nicht so lautes. Und nachher alles wieder wegräumen, und den anderen Müll in der Straße gleich mit.“ So bringt es das Gesagte und das Gehörte unter einen Hut: seinen Wunsch und meine Bedenken. Seine Gefühle und die meinen. Wer wäre ich, da nein zu sagen? Und so stehe ich am nächsten Tag in der Supermarkschlange und lege neben den Zutaten für Raclette eine kleine Tüte Feuerwerkskörper aufs Kassenband. Ohne schlechte Gefühle oder schlechtes Gewissen. Denn ob mit Fondue oder Raclette, mit Knallerei oder ohne, am besten beginnt ein neues Jahr immer: auf Augenhöhe.