Ein Kind stirbt nach einer außerklinischen Geburt. Und seine Hebamme wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt.

Kein Wunder, dass bei einer solchen Gemengelage schnell die Emotionen hochkochen – vor allem bei anderen Hebammen sowie Müttern, die selbst außerklinisch geboren haben. Auch ich als dreifache Hausgeburtsmutter habe, als ich zum ersten Mal von dem Fall gehört habe, spontan ein Gefühl von Mitleid und Solidarität der verurteilten Hebamme gegenüber gespürt: Da widmet eine Frau ihr Leben der Begleitung selbstbestimmter Geburten und kommt dann in den Knast, weil keine Geburtshilfe hundertprozentig sicher sein kann – so war mein erster Gedanke.

Seitdem habe ich mich intensiv mit dem Fall der verurteilten Hebamme und Ärztin Anna Rockel-Loenhoff befasst. Dabei habe ich nicht nur unzählige Medienberichte gehört, angesehen und gelesen, sondern auch das Urteil des Landesgerichts Dortmund selbst durchgearbeitet, das vor Kurzem vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde. Durch diese intensive Auseinandersetzung mit dem Tod der kleinen Greta hat sich meine Einschätzung des Falles stark verändert. Meine ursprüngliche Bestürzung über die Verurteilung Anna Rockel-Loenhoffs wich der Fassungslosigkeit darüber, wie eine Hebamme und Ärztin so verantwortungslos arbeiten kann, wie es die Verurteilte  nicht nur im tragischen Fall der kleinen Greta, sondern auch in der Betreuung anderer Schwangerer und ihrer Babys getan hat.

Heute bin ich deshalb überzeugt: Die Verurteilung von Anna Rockel-Loenhoff war nicht das Ergebnis einer modernen Hexenjagd und auch kein Angriff auf die außerklinische Geburtshilfe oder die freie Wahl des Geburtsorts. Im Gegenteil: Durch das Urteil wurde die professionelle außerklinische Geburtshilfe gestärkt! Denn im Namen des Volkes wurde nicht etwa die verantwortungsvoll praktizierenden Hausgeburtshilfe verurteilt, sondern eine einzelne Person, die sich in gottgleicher Manier über sämtliche Regeln verantwortungsvoller Geburtsbegleitung hinweg setzte und sich so am Tod eines Kindes unmittelbar schuldig machte. Sich als Hebamme oder als Hausgeburtsmutter mit Anna Rockel-Loenhoff zu solidarisieren, heißt deshalb, sich hinter eine Frau zu stellen, die vor Gericht nachweislich nicht nur gelogen hat, sondern die auch jahrelang ihre eigene Vorstellung von Geburt über die Gesundheit und Sicherheit werdender Mütter und ihrer Kinder stellte. Sich vor die Verurteilte zu stellen heißt also letzlich nichts anderes, als sich dagegen zu positionieren, dass auch Geburtshelfer in der außerklinischen Geburtshilfe Verantwortung übernehmen müssen für die Sicherheit von Mutter und Kind, genau wie ihre klinisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen auch.

Dieses Urteil sollte gerade für Hausgeburtsmütter und Hebammen ein Anlass sein, selbstkritisch zu hinterfragen, wofür wir eigentlich stehen wollen. Blinde Solidarität hilft niemandem.

Ich weiß, dass viele Artikel, Blogeinträge und Medienberichte die Theorie von der Verurteilung einer armen Unschuldigen stützen. Ich weiß, wie bestechend die Argumente der Gegner einer Verurteilung Anna Rockel-Loenhoffs gerade für Hausgeburts-Fans wie mich selbst wirken. Ich habe mich selbst in den Bann von Reportagen wie dem WDR-Bericht „Das tote Kind“ ziehen lassen und in der Folge lange Zeit auf einen Freispruch gehofft. Doch nun, nach Lektüre des Urteils, ist mir klar geworden: Die These, bei dem Prozess ginge es letztlich um einen Kampf der Weltanschauungen, um einen Krieg zwischen klinischer und außerklinischer Geburtshilfe, ist in erster Linie ein von Rockel-Loenhoffs Anwälten geschickt orchestriertes Ablenkungsmanöver gewesen. Ein ausgesprochen erfolgreiches übrigens: Hausgeburtsmütter und Hebammen aus Deutschland und anderswo solidarisierten sich mit der Angeklagten, demonstrierten vor dem Gerichtsgebäude für die Freiheit der Geburtshilfe und sammelten Spenden für die angeklagte und nun verurteile Geburtshelferin. Sie bestärkten sich gegenseitig in ihrer Wahrnehmung, dass der ganze Prozess ein abgekartetes Spiel sei. Kein Wunder, dass noch heute viele aufgebrachte Mütter in Diskussionen um das Gerichtsurteil die immer gleichen Argumente ins Feld führen:

Dass der Richter entlastendes Beweismaterial gar nicht erst zugelassen hätte.
Dass die Gutachter offensichtlich in der klinischen Geburtshilfe verhaftet und deshalb befangen gewesen seien.
Dass die Stimmung im Gerichtssaal laut Prozessbeobachtern offen feindseelig gegenüber der Angeklagten gewesen sei.
Dass Richter und Staatsanwälte bei Rockel-Loenhoffs Ausführungen teilweise die Augen verdreht und gar nicht richtig zugehört hätten.
Dass mit Gretas Lunge von vornherein etwas nicht in Ordnung gewesen wäre.
Dass es doch kein Zufall sei, dass parallel zur Schwächung der außerklinischen Geburtshilfe durch steigende Haftpflichtprämien nun auch eine Ikone der Hausgeburtsszene in einem Schauprozess zu Fall gebracht würde.

Wer sich das ganze Urteil durchliest – Achtung, es ist sehr lang, sehr detailreich und insbesondere für Mütter im Wochenbett (wie mich selbst) teilweise sehr belastend zu lesen – kommt schnell zu dem Schluss, dass an den meisten dieser Vorwürfe nichts dran ist. Und dass die Vorwürfe, die zutreffen, nichts daran ändern, dass Anna Rockel-Loenhoff zurecht verurteilt ist. Denn das Urteil spiegelt nicht etwa nur die Meinung eines einzelnen Richters oder Anwalts nieder. Nein, es listet detailliert all die Gutachten, Beweise und Zeugenaussagen auf, die letztlich zu der Verurteilung geführt haben. Es zeigt, dass sehr wohl alle Beweise vor Gericht zugelassen worden sind – auch von Anna Rockel-Loenhoff persönlich in Auftrag gegebene Gutachten und Gewebeanalysen vermochten sie nicht zu entlasten. Vor allem aber beweisen die vielen Zeugenaussagen in dem Urteil, dass die Gerichtsverhandlung eben kein Schauprozess und auch kein abgekartetes Spiel war. Stattdessen wird klar, wie Anna Rockel-Loenhoff immer wieder gezielt die Unwahrheit sagte und außerdem mehrere Versuche unternahm, Zeugen zu manipulieren. Und schließlich tritt aus den vielen Berichten ihre Grundüberzeugung zutage: Dass keine natürliche Geburt irgendwelcher medizinischer Interventionen bedarf, weil Kinder, die nicht ohne medizinische Hilfe zur Welt kommen können, ohnehin nicht lebensfähig seien.

Natürlich liest sich das Urteil an manchen Stellen für Kennerinnen der außerklinischen Geburtshilfe wie mich auch befangen, das will ich gar nicht in Abrede stellen: Wenn davon die Rede ist, dass die verantwortungsvolle Geburtshilfe stets ein Dauer-CTG erfordere oder wenn behauptet wird, Mekoniumabgang bedeute immer Stress beim Kind (gerade bei BEL-Geburten stimmt das nicht!), schüttle auch ich innerlich beim Lesen mit dem Kopf. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass die gesamte über 200 Seiten lange Urteilsschrift glasklar aufzeigt, dass die Theorie von der Verurteilung einer armen, unschuldigen Geburtshelferin  eine gefährliche Verschwörungstheorie ist. Denn die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache:

Anna Rockel-Loenhoff hatte mindestens zwei weitere Todesfälle bei von ihr begleiteten Geburten schlicht nicht gemeldet, um sie zu vertuschen.
Anna Rockel-Loenhoff hatte Gretas Eltern nicht über die Risiken einer außerklinischen BEL-Geburt aufgeklärt und damit zu einer mündigen Entscheidung befähigt, sondern ihnen nur dazu geraten, sich mit den Risiken besser gar nicht erst auseinander zu setzen.
Anna Rockel-Loenhoff hat Eltern gesagt, dass sie im Zweifelsfall in nahegelegene Kliniken verlege, was eine glatte Lüge war: Sie hatte seit vielen Jahren keine einzige von ihr begleitete Geburt in eine Klinik verlegen lassen.
Anna Rockel-Loenhoff hat sich bereits vor Gretas Tod bei mehreren Hausgeburten auf haarsträubende Weise über die – teilweise von ihr selbst formulierten – Grundregeln einer sicheren Geburtshilfe hinweggesetzt und damit bewusst das Leben von ihr begleiteter Mütter und ihrer Babys aufs Spiel gesetzt.

Erst nach der Lektüre dieses Urteils wird ersichtlich, wie manipulativ viele Medienberichte über den Fall waren und wie geschickt Anna Rockel-Loenhoff nach wie vor versucht, sich – etwa durch ein YouTube-Interview mit Dagmar Neubronner, das auf YouTube zu sehen ist – als Opfer zu inszenieren. Und viele Verfechterinnen der selbstbestimmten Geburt nehmen ihr diese Inszenierung ab, weil sie so gut in unser Weltbild passt – welche Hausgeburtsmutter hat nicht selbst schon die ungerechte Vorverurteilung unserer mündigen Entscheidung für eine sichere, selbstbestimmte außerklinische Geburt erlebt?

Doch, und das möchte ich all denen sagen, die sich nun mit Anna Rockel-Loenhoff solidarisieren: Gretas Geburt war keine selbstbestimmte Hausgeburt, bei der tragischerweise etwas schief lief.
Gretas Geburt war eine durch und durch fremdbestimmte Hotelgeburt, bei der ein Kind lebend zur Welt kam und kurz danach starb, weil seine Hebamme es nicht für notwendig hielt, rechtzeitig einen Notarzt zu rufen.
Gretas Mutter – eine Erstgebärende, die ihr Baby mit Anna Rockel-Loenhoffs Hilfe aus Beckenendlage spontan zur Welt bringen wollte – wurde nach einem Blasensprung in der Nacht von ihrer Hebamme über 12 Stunden allein gelassen. Sie wurde weder begleitet noch unterstützt noch still beobachtet während ihrer Geburtsarbeit, sie war schlicht allein mit ihrem Mann in einem Hotelzimmer. Und als ihre Hebamme schließlich dazu kam, es der werdenden Mutter sichtbar schlecht ging und eine Hebammenkollegin Anna Rockel-Loenhoff per Handy dringend zur Verlegung in die Klinik riet, wurde der Gebärenden immer noch nicht geholfen. Und als das Baby dann zur Welt kam – schwach, aber noch nicht tot – verzögerte die Hebamme und Ärztin bewusst das Herbeirufen eines Notarztes. Den Grund dafür gab sie selbst zu Protokoll: Sie wollte den Eltern ein behindertes Kind, wie sie es selbst geboren hat, ersparen.

Gretas Eltern wünschten sich eine natürliche Geburt. Noch mehr aber wünschten sie sich ein lebendes Kind. Ihre Hebamme wusste das – und nahm den Tod ihres Babys dennoch billigend in Kauf.

Gretas Eltern hatten Rockel-Loenhoff vor Gretas Geburt gesagt, dass sie sich zwar sehr eine außerklinische natürliche BEL-Geburt wünschen, dass für sie jedoch die Gesundheit von Mutter und Kind das wichtigste sind.

Diese Einstellung deckte sich jedoch nicht mit Anna Rockel-Loenhoffs Ideologie von der natürlichen Geburt als Prüfstein zum Lebensbeginn, nach der nur Babys, die diesen Weg alleine und ohne Hilfe schaffen, auch wirklich lebenstüchtig und lebenswert sind. Diese Ideologie stellte Rockel-Loenhoff vor den Wunsch der Eltern, vor die Regeln verantwortungsvoller Geburtshilfe, und vor das Lebensrecht der kleinen Greta. Sie entschied eigenmächtig, dass der Tod eines Kindes der bessere Ausgang einer Geburt sei als den Eltern ein lebendes, aber möglicherweise schwer behindertes Kind zuzumuten. Und traf all diese Entscheidungen, ohne sich mit den Eltern über ihre Gefühle, ihren Wunsch, ihr Anliegen abzusprechen.
Deshalb lautete das Urteil Totschlag, und nicht fahrlässige Tötung.
Denn ein Totschlag erfordert das billigende In-Kauf-Nehmen des Todes eines anderen Menschen.

Und genau das hat Anna Rockel-Loenhoff bei dieser getan.

Das arme Opfer bei diesem Gerichtsprozess ist deshalb nicht die außerklinische Geburtshilfe, und auch nicht Anna Rockel-Loenhoff.

Das Opfer ist die kleine Greta, die aufgrund der von Anna Rockel-Loenhoff getroffenen Entscheidungen nicht leben durfte. Und deshalb erfolgte die Verurteilung der Hebamme und Ärztin sehr wohl #InmeinemNamen – als Journalistin, als Mutter, vor allem aber als Verfechterin der selbstbestimmten Geburt.

Leipzig, 2. Juli 2016

Nora Imlau