Vor einigen Tagen habe ich auf Facebook einen Text veröffentlicht, der seitdem viele Menschen beschäftigt und bewegt hat. Ich schrieb in diesem Text darüber, dass ich es oft nicht schaffe, die Mutter zu sein, die ich gern wäre. Dass ich an vielen Stellen Abstriche mache und mich von meinem Perfektionismus verabschiedet habe, um jeden Tag genügend Kraft zu haben für mein wichtigstes Ziel: meine Kinder bindungsorientiert, also liebevoll, gewaltfrei, verständnisreich, geduldig und zugewandt ins Leben zu begleiten.

Teil dieses Textes war eine Auflistung von Dingen, mit denen ich mir meinen Alltag leichter mache: Manchmal darf mein Kleinkind fernsehen. Manchmal gibt es bei uns Tiefkühltorte zum Kindergeburtstag statt selbst gebackenem Kuchen. Und dann stand da in dieser Auflistung auch dieser Satz: „Ich boykottiere nicht Nestlé.“

Ein Bekenntnis, das viele als menschlich und entlastend empfanden, das bei manchen Menschen jedoch auch Empörung und Unverständnis, Enttäuschung und Entsetzen hervor rief. Ich hatte – mal wieder – ein heißes Eisen der bindungsorientierten Szene angepackt, nach dem Thema Impfen und dem Thema Reboarder nun also das Thema: Was hat Bindungsorientierung mit unserem Konsumverhalten zu tun?

„Hättest Du diesen einen Satz nicht einfach weglassen können?“, schrieb mir eine Leserin. „Dein Text hätte doch auch wunderbar ohne dieses eine Beispiel funktioniert.“

Das wage ich zu bezweifeln. Denn tatsächlich war das Nestlé-Beispiel keine zufällig herausgegriffene „kleine Sünde“ unter vielen, sondern ein bewusst gewähltes Exempel für ein großes, komplexes, mit vielen Gewissensbissen und Schuldgefühlen beladenes Thema, das zudem in bindungsorientierten Kreisen noch stark moralisch aufgeladen ist. Denn das ist es ja, was uns Eltern wirklich Stress macht:  Nicht die kleinen, lässlichen Sünden. Sondern die großen Dinge, für die man in unserer Community teilweise richtig persönlich angegriffen und scharf verurteilt wird.

Ich wollte also zeigen: Der bindungsorientierte Familienalltag kann – je nach persönlichen Ressourcen – so viel Kraft binden, dass nicht nur für vernachlässigbare Kleinigkeiten wie Bügeln oft keine mehr übrig bleibt. Sondern auch für richtig große, wichtige Dinge. Und auch das ist menschlich. Und okay!

Denn in der bindungsorientierten Bloggerszene im Internet kann man schon leicht das Gefühl bekommen, es bei den großen AP-Ikonen mit Menschen zu tun zu haben, die das mit dem nachhaltigen, ökologisch und ethisch besonders korrekten Leben fast schon überirdisch gut hinbekommen. Ich kritisiere das überhaupt nicht, im Gegenteil: Ich bewundere jeden, der authentisch so lebt und dieses Leben so auch öffentlich zeigt und damit viele Menschen begeistert und inspiriert (mich selbst eingeschlossen!)

Und gleichzeitig finde ich es eben auch wichtig, zu zeigen: Bindungsorientiertheit ist bunt. Und ich, Nora Imlau, deutschsprachige AP-Vertreterin seit über 10 Jahren, kriege das alles auch nicht immer alles so super hin. Mit den Stoffwindeln. Und dem Holzspielzeug. Und dem ethisch korrekten Konsum. Und trotzdem bin ich keine schlechte Mutter. Und auch kein schlechter Mensch.

Aber hätte ich dann nicht zumindest schreiben können: „Ich schaffe es nicht immer, Nestlé zu boykottieren“? Oder irgendeine andere unverfänglichere Formulierung wählen? Nein, denn damit hätte ich mich ja wieder moralisch erhoben: über die, die es gar nicht erst probieren. Und das wollte ich nicht.

Da stürzte ich mich lieber selbst vom Sockel. Und so bewusst zugespitzt die Beispiele in meinem Facebook-Post auch waren – natürlich wird hier mehr vorgelesen als ferngesehen, und auch wenn’s hier mal Tiefkühltorte gibt backe ich leidenschaftlich gerne Kuchen! – so ehrlich war mein Nestlé-Geständnis: Ich habe mich da tatsächlich nie ernstlich um einen Boykott bemüht, weil ich mich schon von dem Gedanken daran überfordert fühlte.

Gehörten da nicht unheimlich viele Untermarken dazu, die man dann auch noch kennen musste? Und die anderen großen Unternehmen, Monsanto, Unilever – müsste ich die dann nicht konsequenterweise gleich mit boykottieren? Würde ich dann überhaupt noch im ganz normalen Supermarkt einkaufen können? Ich sah mich in Gedanken auf dem Heimweg von der Tagesmutter mit drei Kindern im Schlepptau durch unseren Rewe hetzen, eine lange Liste verbotener Produkte in der Hand, gestresst versuchend, aus den wenigen erlaubten irgendein Abendessen zusammen zu stellen. Allein die Vorstellung ließ schon meinen Puls in die Höhe schnellen.

Also kam ich zu dem Schluss, mir diesen Stress zu sparen und mich lieber auf andere Weise zu engagieren: unter anderem, indem ich einen Teil meines Einkommens an Organisationen spende, die sich direkt vor Ort gegen Ausbeutung und Kinderarbeit und für das Menschenrecht auf Wasser stark machen. Ein Stressfaktor weniger. Oder?
Nein, befanden einige, die meinen Post lasen, so ginge das nicht: Was ich als Privatmensch tue, sei ja meine Sache, aber als bindungsorientierte Autorin mit einer reichweitenstarken Facebookseite hätte ich schließlich eine Verantwortung. Ich sei schließlich Vorbild! Da könne ich Menschen doch nicht einfach ihre berechtigten Schuldgefühle bei unethischem Konsumverhalten nehmen?

Je stärker ich unter Druck gesetzt wurde, meine Haltung zum Thema Nestlé-Boykott zu revidieren, desto weniger Lust hatte ich, genau das zu tun. Womit wieder einmal bewiesen wäre, was das einzige ist, das Druck bewirkt: Gegendruck.

Und dann war da noch meine Freundin, nennen wir sie Anna. Sie boykottiert Nestlé schon sehr lange, und der Boykott ist für sie eine echte Herzensangelegenheit. Trotzdem fand sie meinen Text wunderbar, ohne wenn und aber. Die Nestlé-Zeile las sie ohne mit der Wimper zu zucken: „Das ist doch ein geniales Beispiel dafür, wie manchmal in der AP-Szene anhand von einem einzigen Kriterium entschieden wird, ob jemand drin oder draußen ist. Als ob es nicht tausend Wege gäbe, für eine bessere Welt einzustehen, ob mit oder ohne Nestlé-Boykott.“ Egal, wie viel Kritik auf mich auch einprasselte: Anna stand hinter mir. „Du bist toll! Dein Text ist toll! Lösch den bloß nicht! Seine Botschaft ist so wichtig!“

Als der große Sturm vorüber war, lag mir eine Frage auf der Seele: „Sag mal, Anna, mit deinem Nestlé-Boykott … wie machst du das eigentlich ganz konkret?“ Weil meine Freundin mich so voller Achtung vor mir und meinen individuellen Lebensentscheidungen durch die Zeit der persönlichen Anfeindungen begleitet hatte, traute ich mich nun, ihr all die Fragen zu stellen, die ich schon lange mit mir herumtrug. Was heißt das für dich eigentlich konkret: ein Unternehmen zu boykottieren? Gehst du dann auch in kein Café mehr, das von da seinen Kaffee bezieht? Verwehrst du deinen Kindern im Schwimmbad das Eis? Hältst du sie beim Einkaufen mit Horrorgeschichten davon ab, sich jemals wieder Smarties zu wünschen?

Und Anna antwortete mir, so liebevoll und zugewandt, wie sie auch zu ihren Kindern ist. Dass der Boykott für sie erstmal für sie persönlich gilt – nicht für ihre Kinder, nicht für ihren Mann. Dass er ein Ziel ist, ein Ideal. Aber nichts, bei dem sie sich schlecht fühlt, wenn sie es mal nicht hundertprozentig durchhält. Dass sie ihren Kindern keine Schreckensgeschichten aus fernen Ländern erzählt, wenn die sich Smarties wünschen. Sondern einfach fragt, ob es nicht stattdessen auch M&Ms sein dürfen. Und wenn ihre Kinder dann sagen, nein, lieber Smarties – dann kauft sie Smarties, und zwar ohne schlechtes Gewissen. Dass sie zwar Nestlé boykottiert, aber nicht auch noch all die anderen großen Lebensmittelkonzerne, die regelmäßig aus gutem Grund in der Kritik stehen. Weil sie weiß, dass auch sie das überfordern würde: „Lieber ein, zwei Herzensprojekte angehen, als auf einmal alles erreichen wollen und dann gar nichts schaffen.“

In all ihren Erklärungen schwang nicht ein Hauch eines Wunsches mit, mich zum Boykottieren zu missionieren. Immer wieder betonte sie, dass das ihr Weg sei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Genauso, wie ich das auf meine Weise tue.

Und genau dadurch keimte in mir plötzlich der Wunsch, in meinen Konsumentscheidungen in Zukunft doch mehr wie Anna zu handeln: Nicht aufzugeben angesichts der Vielzahl ethischer Problematiken beim Einkaufen, sondern mich ganz bewusst auf ein, zwei schaffbare Projekte zu konzentrieren, und zwar mit viel Nachsicht und Freundlichkeit mir selbst und meiner Familie zu konzentieren.

Hochmotiviert las ich auf der Nestlé-Homepage im Internet nach, welche Produkte und Untermarken da alles dazugehören. Und stellte fest, dass wir 95 Prozent davon sowieso nie kaufen und auf die restlichen fünf Prozent eigentlich auch ziemlich gut verzichten könnten. Das war mir so nur nie wirklich klar gewesen, weil ich vor lauter „Wenn schon Boykott, dann richtig“-Denken immer die Produkte sämtlicher Lebensmittel-Giganten als ethisch gleich problematisch eingestuft hatte. Im Vergleich dazu fühlte sich der Gedanke, in Zukunft beim Einkaufen eben Knorr statt Maggi zu kaufen und Kellogg’s statt Nestlé, geradezu lächerlich einfach an. Und davor hatte ich die ganze Zeit Angst gehabt?

Seit ein paar Tagen boykottiere ich nun also Nestlé – so, wie Anna es mir beigebracht hat. Schritt für Schritt, ohne Perfektionismus, mit viel Nachsicht meinen Kindern gegenüber und mir selbst. Und es fühlt sich nicht schwer an oder überfordernd. Sondern leicht, und richtig, und gut.

Würde ich meinen Text von vor ein paar Wochen deshalb heute anders formulieren? Nein, denn ich finde es nach wie vor wichtig, Eltern zuzurufen: Niemandem steht es zu, zu bewerten, wie viel ihr im Alltag schaffen könnt und müsst, um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und Ihr habt jedes Recht, Euch dem Druck entgegen zu stemmen, der von allen Seiten auf Euch ausgeübt wird – auch wenn es im Namen der guten Sache ist.

Manchen Menschen fällt ein nachhaltiger Lebensstil nun mal leichter als anderen. Familien sind verschieden, persönliche Ressourcen sind verschieden, inviduelle Prioritäten sind verschieden. Und das ist okay.

Lasst Eure Schuldgefühle los. Liebt Eure Kinder, und Euch selbst. Lasst Euch nicht schwächen von denen, die Euch moralisch unter Druck setzen wollen. Hört lieber denen zu, die in Euch die großartigen Menschen sehen, die Ihr bereits seid.

Und seid selbst diese Menschen, die das Gute in ihrem Gegenüber sehen, auch wenn es vielleicht auf ganz andere Weise für eine bessere Welt sorgt als Ihr.

Mahnt nicht. Verurteilt nicht. Sagt: Du bist gut, genauso wie Du bist. Und meint es genau so.

Und dann wartet einfach ab, was passiert.