Als meine älteste Tochter ein Baby war, ging ich mit ihr zu einer Kinderärztin, die uns unsere Hausgeburtshebamme empfohlen hatte. In ihrer Praxis herrschte eine wunderbar heimelige Atmosphäre: im Wartezimmer gab es bunte Seidentücher und einen Waldorf-Spielständer statt bunter blinkender Plastik-Spielzeuge, und praktisch alle Mütter, die sich dort einfanden, trugen ihre Babys im Tragetuch, gaben ihnen die Brust und wickelten mit Stoffwindeln. Die Ärztin selbst war eine ausgesprochen warmherzige, liebevolle Person, die unser Baby mit großer Vorsicht untersuchte – von der typischen Hektik großer Kinderarztpraxis keine Spur. Ich hatte das Gefühl: Hier sind wir in guten Händen. Erst als meine Tochter etwa ein halbes Jahr alt war, fiel mir plötzlich auf, dass die Ärztin bislang ja noch kein Wort über Schutzimpfungen verloren, geschweige denn eine Spritze gesetzt hatte. War jetzt nicht langsam mal Zeit dafür? Eine schnelle Internet-Recherche ergab: Laut empfohlenen Impfplan wären die ersten Impfungen sogar schon lange dran gewesen! Ich hatte davon nur irgendwie nichts erfahren. Als ich unsere Ärztin darauf ansprach, reagierte sie höchst verwundert: Bei einer Mutter wie mir – die ihr Baby zu Hause bekommt, die es lange und nach Bedarf voll stillt, und die zu jeder Untersuchung mit dem Tragetuch kommt – sei doch wohl davon auszugehen, dass ich auch Impfkritikerin sei.

Das gehöre doch schließlich alles zusammen. Der bindungsorientierte Umgang mit dem Baby und das Schonen und Schützen seines kleinen Immunsystems gingen doch schließlich Hand in Hand – weshalb sie niemals Kinder vor dem ersten Geburtstag impfe.

In der Woche darauf wechselten wir die Kinderarztpraxis, und unsere Tochter bekam nach und nach alle empfohlenen Schutzimpfungen. Denn unsere alte Kinderärztin hatte Unrecht: Längst nicht alle Eltern, die sich für den bindungsorientierten Weg entscheiden, sind deshalb auch gegen das Impfen. Im Gegenteil: Vielen „Attachment Parenting“-Familien ist der Impfschutz ihrer Kinder ganz besonders wichtig – ebenso wie das Autofahren im Reboarder und andere Maßnahmen, die nachweislich die Gesundheit ihrer Kinder schützen.

Und trotzdem hält sich das Bild hartnäckig: „Attachment Parenting“-Eltern, das sind doch die, die lange stillen und tragen und in riesigen Familienbetten schlafen – und die ihre Kinder nicht impfen lassen.

Das Voruteil hält sich hartnäckig:
“Attachment Parenting”-Eltern?
Das sind doch diese Ökos, die ihre Kinder nicht impfen lassen!

„Attachment Parenting“ als Sammelbecken für Impfkritiker: Ist das nur ein Vorurteil, eben dieses Öko-Eltern-Klischee? Nicht ganz: Es ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass sich in bindungsorientierten Kreisen überdurchschnittlich viele Eltern tummeln, die der Schulmedizin im Allgemeinen und Schutzimpfungen im Besonderen mehr als skeptisch gegenüber stehen. Und so kommt es, dass etwa in entsprechenden Eltergruppen auf Facebook ganz schnell der Eindruck entstehen kann, eine gewisse Impf-Skepsis gehöre hier ebenso zum guten Ton wie Tragetuch, Familienbett und Reboarder. In vielen dieser Gruppen sind Diskussionen zum Thema Impfen deshalb mittlerweile sogar verboten – so heftig gingen Mütter und Väter in der Vergangenheit dabei aufeinander los.

Doch woran liegt das, dass ausgerechnet in bedürfnisorientierten Kreisen die Debatte um das Impfen immer wieder so heftig und emotional hochkocht?

Ich sehe dafür vor allem einen Grund: Wir „Attachment Parenting“-Familien sind eine viel diversere Gruppe als die meisten von uns annehmen. Und das kann zu heftigen persönlichen Enttäuschungen führen – dann nämlich, wenn der von uns so geschätzte Clan auf einmal ganz anders reagiert als wir es erwarten und erhoffen. Denn wenn wir uns in bedürfnisorientierten Stillgruppen, Krabbelkreisen und Eltern-Communities im Internet mit anderen Müttern und Vätern austauschen, dann geht es dabei nur oberflächlich um die Frage der richtigen Windeln oder der besten Beikost. In Wirklichkeit geht es uns darum, Gleichgesinnte zu finden.  Schließlich sind wir Menschen aus evolutionsbiologischer Sicht eine kooperativ aufziehende Art und brauchen dringend andere Menschen, die uns auf unserem Weg als Eltern unterstützen. Und in unserer modernen Welt erfüllt diese Funktion oft unser „Online-Clan“, also eine virtuelle Gemeinschaft von Eltern, die ein ähnliches Wertesystem leben wie wir selbst.

Und jetzt kommt der Knackpunkt: Wir gehen also ins Internet und stoßen auf eine Gruppe, in der alle alles ähnlich zu machen wie wir selbst. Mit unserem Stillen, Tragen, Co-Sleeping und so weiter fühlen wir uns plötzlich nicht mehr als Aliens, sondern als Teil einer Wertegemeinschaft. Und gehen automatisch davon aus, dass die Menschen in dieser Gruppe auch in anderen Fragen mit uns auf einer Linie sind. Etwa in der Impf-Frage. Und dann stellen wir plötzlich fest: Auch hier, in unserem sicheren Hafen, in unserem eigenen Clan, gibt es Menschen, die unsere Impf-Entscheidung für geradezu un-ver-ant-wort-lich halten und auch nicht davor zurück scheuen, uns genau das zu sagen. Ein Angriff mitten in unserem Schutzraum, von Menschen, die doch eigentlich gleich ticken wie wir! Klar, dass da die Gefühle schnell mit uns durchgehen.

Andere “Attachment Parenting”-Familien zu finden, ist ein Glück.
Doch es heißt noch lange nicht, dass sie in der Impf-Frage genauso ticken wie wir.

Um zu verstehen, was genau da passiert, müssen wir uns deshalb bewusst machen, wer sich alles von der „Attachment Parenting“-Philosophie und den entsprechenden Elterngruppen im Internet angezogen fühlt. Da sind zum Beispiel:

Die Rebellen, die gerne gegen den Strom schwimmen und stolz darauf sind, im Mainstream verbreitete Handlungsmuster kritisch zu hinterfragen. Alle schieben Kinderwagen? Ha, ich trage! Alle stillen maximal ein halbes Jahr? Ha, mein Kind kriegt drei Jahre die Brust! Alle impfen brav wie der Kinderarzt es empfiehlt? Ha, ich habe meinen eigenen Kopf und fälle lieber meine eigene Impf-Entscheidung als stupide der breiten Masse zu folgen!

Die Bullerbü-Romantiker, die sie sich von dem Ideal der sich liebevoll kümmernden Mutter angesprochen fühlen. Die eigenen Kinder sollen eine schöne, heile Kindheit haben, geborgen und geliebt aufwachsen, und nicht so früh mit den Härten der Welt konfrontiert werden. Deshalb geht es auch frühestens mit vier in den Kindergarten – ein natürlicher Schutz vor allen möglichen Kinderkrankheiten!

Die Ökos, für die das Attachment Parenting eine logische Fortsetzung ihrer grünen Überzeugungen ist. Sie haben sich schon immer für Nachaltigkeit und die Zukunft unseres Planeten interessiert und haben dementsprechend eine Affinität zu veganer Ernährung, Stoffwindeln und einer Elternschaftsphilosophie, die ganz ressourcenschonend auf Präsenz statt viel Baby-Equipment setzt. Impfungen empfinden sie oft als „unnatürlich“ und deshalb von zweielhaftem Nutzen.

Die Spirituellen, die daran glauben, dass Mutter Natur für uns Menschen sorgt und dass sich unser Schicksal ohnehin nicht von uns beeinflussen lässt. Statt Schutzimpfungen setzen sie lieber auf Vertrauen ins Leben.

Die Alternativen, die aus der schulmedizinkritischen Ecke zum Attachment Parenting kommen: In der Schwangerschaft sind sie Ärzten schon bewusst aus dem Weg gegangen, zur Geburt hatten sie ausschließlich Hebammenbegleitung (oder gar keine), ihre Gesundheit vertrauen sie lieber Heilpraktikern und alternativen Heilungsmethoden an als Schulmedizinern und ihren Hammer-Medikamenten. Sie haben eine hohe Affinität zur Homöopathie, Akupunktur und anderen alternativen Heilmitteln und sind überzeugt davon, dass Schutzimpfungen das empfindliche Gleichgewicht des Körpers schädigen und aus der Balance bringen. Die Menschen, die sie auf ihrem alternativmedizinischen Weg begleiten, bestätigen sie darin.

Die Weltverbesserer, die aus der gesellschaftskritischen Ecke zum Attachment Parenting kommen. Sie sagen: In unserer Welt geht vieles schief, weil wir Menschen die falschen Prioritäten setzen und uns mehr Gedanken um die Zukunft unserer Ökonomie als um die unserer Kinder machen – wir wollen es besser machen! Und wenn Schutzimpfungen dazu beitragen, dass unsere Kinder zu seelisch und körperlich gesunden Erwachsenen werden, die die Welt ein Stückchen besser machen – dann her damit!

Die Kopfmenschen, die sich intensiv damit befasst haben, welcher Umgang mit Babys und Kindern für deren Entwicklung am vorteilhaftesten sind und die dabei herausgefunden haben, dass es aus entwicklungspsychologischer und neurologischer Sicht für Kinder nichts besseres gibt als in ein bindungs- und beziehungsreiches Familienleben, in dem Nähe und Respekt selbstverständlich sind. Und weil immunologische Studien ebenso eindeutig belegen, dass Schutzimpfungen sicher und empfehlenswert sind, lassen diese Eltern ihre Babys mit der selben Überzeugung impfen wie sie sie stillen, tragen und nicht schreien lassen.

– Die Anthros, die sich der Lehre Rudol Steiners zugetan fühlen, sich bevorzugt in Waldorf-Spielgruppen tummeln und dort mit auf den Weg bekommen, dass Kinderkrankheiten wichtige Reifungsschritte einleiten, die durch Schutzimpfungen keinesfalls unterbunden werden sollten.
– Die Bauchgefühl-Menschen, die einfach alles im Umgang mit ihrem Baby „nach Gefühl“ machen und irgendwann feststellen, dass das, was sie da machen, einen Namen hat: Attachment Parenting. Ebenso intuitiv entscheiden sie in der Impf-Frage. Und weil es sich für die allermeisten Eltern nachvollziehbarerweise besser anfühlt, ein Baby nicht pieksen zu lassen, schieben sie die Impf-Entscheidung häufig erstmal auf.

– Die Überzeugungstäter, die eine starke Meinung zu allem haben, was sie tun, und sich dann gerne Studien und Expertenaussagen zusammensuchen, die diese untermauern. Wie ihre Impf-Entscheidung ausfällt, ist höchst verschieden – aber sie wird in jedem Fall mit großer Vehemenz vertreten, ebenso wie alle „Attachment Parenting“-Bausteine auch.

Natürlich erhebt diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und es länge mir fern, nun sämtliche bindungsorientierten Familien in meinem Umfeld in eine dieser Schubladen einzusortieren, zumal es garantiert auch jede Menge Misch-Typen gibt. Warum also dann diese Typologie? Einzig und allein um zu zeigen: Wir „Attachment Parenting“-Familien mögen auf den ersten Blick viel gemeinsam haben – wir sind aber im Grunde genommen sehr unterschiedlich. Das Besondere am Attachment Parenting ist jedoch, dass es extrem verschiedene Menschen an einem Ort zusammen bringt. Ein Mensch, der eine sehr rationale, wissenschaftliche, evidenzbasierte Weltsicht hat, würde sich im Normalfall wohl eher nicht mit jemandem aus der alternativmedizinisch-spirituellen Ecke zusammen tun – in der Stillgruppe sitzen diese beiden Menschen aber plötzlich nebeneinander. Die eine Person, weil sie weiß, dass Stillen tausenden Studien zufolge die optimale Säuglingsernährung ist, die andere, weil ihr Gefühl und ihre Heilpraktikerin ihr gesagt haben, dass Stillen eine ganz besondere körperliche und seelische Verbindung zum eigenen Kind ermöglicht. In „Attachment Parenting“-Gruppen treffen also die unterschiedlichsten Menschen und Philosophien aufeinander, deren kleinster gemeinsamer Nenner lautet: Wir wollen bedürfnisorientierte Eltern sein.

Bricht in einer solchen Gemeinschaft dann wieder einmal eine Impf-Diskussion aus, geht es in Wahrheit also nicht um die Schutzimpfungen an sich als um die Frage: Wer hat hier die Deutungshoheit über unseren Weg, Elternschaft zu leben? Bin ich hier in einem Clan, der Schulmedizin ablehnt, oder in einem, der sie als existenziell wichtig erachtet? Definiert sich mein Clan darüber, sich auf die eigene Intuition zu verlassen, oder auf wissenschaftliche Studien? Oder kann in unserem Clan auch beides nebeneinander stehen?

Wir “Attachment Parenting”-Familien sind eine große, diverse Gruppe, zu der radikale Impfgegner ebenso dazu gehören wie glühende Impf-Befürworter.
Was sie eint ist, dass sie das Beste für ihre Kinder wollen.
Was sie trennt ist die Frage, ob Schutzimpfungen zu diesem Besten dazugehören.

Für mich persönlich ist klar: Nur weil ich mit meinen Kindern bedürfnisorientiert umgehe und bei uns in der Babyzeit die typischen „Attachment Parenting“-Insignien Tragetuch, Familienbett und nun sogar Stoffwindeln nie weit sind, heißt das noch lange nicht, dass ich auch Schutzimpfungen ablehne – im Gegenteil. Ich bin überzeugt davon, dass verantwortungsvolle Elternschaft manchmal auch bedeutet, gegen das eigene Bauchgefühl zu handeln. Nämlich immer dann, wenn wir vor einer Entscheidung stehen, auf die wir evolutionär nicht vorbereitet sind – wie etwa die zwischen einer Spritze, die mein Baby jetzt zum Weinen bringt, und der abstrakten Gefahr einer möglicherweise gefährlichen Krankheit.

Es gibt Entscheidungen, die fühlen sich falsch an und sind trotzdem richtig.
Meine Kinder impfen zu lassen zählt für mich zu diesen Entscheidungen.

Konkret heißt das: Natürlich fällt es auch mir schwer, meinen kleinen Sohn festzuhalten, während ihm eine Nadel ins Bein gepiekt wird woraufhin er losschreit wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch für mich gibt es keinen Grund, den vielen tausend Studien zu misstrauen, die eindeutig belegen, dass für das einzelne Baby, aber auch für uns als Gesellschaft die sichere Entscheidung ist zu impfen als nicht zu impfen. (Und nein, die Website oder das YouTube-Video der Wahrheit, in den Kommentaren gepostet, wird an dieser Überzeugung nichts ändern – ich verlasse mich da lieber auf so vertrauensvolle Ratgeber wie etwa meinen Freund und Kollegen Dr. Herbert Renz-Polster, selbst Wissenschaftler und Kinderarzt und einer der bedürfnisorientiertesten Menschen, die ich kenne.)

“Attachment Parenting” und Impfen gehen wunderbar zusammen.
Schließlich geht es bei beidem darum, dass unsere Kinder gesund und sicher groß werden.

Mir ist bewusst, dass meine Argumente die Impf-Kritiker in unseren „Attachment Parenting“-Reihen nicht vom Impfen überzeugen werden. Das ist okay, denn andere Eltern zu misssionieren war nie mein Ziel. Aber es ist mir wichtig, gerade den Eltern, die impfen, zuzurufen: Lasst euch von den Impfgegnern im „Attachment Parenting“-Lager nicht abschrecken und lasst sie Euch vor allem nicht davon abhalten, Euch selbst mit der “Attachment Parenting”-Idee zu identifizieren. Denn auch wenn es bei uns „Attachment Parenting“-Eltern viele Impfkritiker gibt – mehr als in anderen Elterngruppen, so viel ist gewiss – gibt es auch hier ganz viele Eltern wie mich, die vom Nutzen schützender Impfungen überzeugt sind. Nicht zu impfen ist also weder ein Bestandteil der „Attachment Parenting“-Philosophie, noch ein Grund, sich als besonders bedürfnisorientierte Familie zu fühlen. Denn „Attachment Parenting“ und Impfen gehen wunderbar zusammen, wie das Beispiel meiner eigenen Familie und das vieler, vieler anderer Eltern zeigt: Für uns gehört der Impfschutz zum geborgenen Aufwachsen genauso dazu wie das Stillen, das Tragen und das Niemals-Schreienlassen. Schließlich ist unser größter Wunsch und wichtigstes Ziel, dass unsere Kinder körperlich und seelisch gesund und geschützt großwerden. Und wenn Schutzimpfungen dabei helfen – umso besser!