Stellt Euch vor: Ich kenne Eltern, die haben ihr über alles geliebtes Baby im Auto gänzlich ohne Babyschale mitgenommen. Sie legten die Kleine einfach in die Liegewanne ihres Kinderwagens, befestigten diese so gut es eben ging mit den Gurten auf der Rückbank und legten mit ihr auf diese Weise viele tausend Autobahnkilometer zurück. Können das bedürfnisorientierte Eltern gewesen sein? Oh ja, sage ich, und ich muss es wissen: Die Eltern waren nämlich meine, und das Baby in dem Kinderwagenoberteil war ich.

Nun ist das natürlich schon 33 Jahre her, und seitdem hat sich zum Glück viel getan: Dank moderner Babyschalen und supersicheren Kindersitzen fürs Auto fahren Kinder heute so sicher wie nie zuvor, und ein Baby einfach im Kinderwagenoberteil zu transportieren wie es in meinem Geburtsjahr üblich war ist heute aus gutem Grund streng verboten. Um zu sehen, wie wichtig gute Kindersitze sind, reicht ein Blick in die Statistik: Starben in meinem Geburtsjahr 1983 in Deutschland noch 796 Kinder im Straßenverkehr, ist die Zahl seither kontinuierlich gesunken und lag 2015 bei nur noch 58 Kindern. Das heißt: Die Zahl der im Straßenverkehr tödlich verunglückten Kinder ist seit meiner Geburt um sagenhafte 93 Prozent zurückgegangen – und verringert sich mit jedem Jahr noch etwas mehr.

Trotzdem ist natürlich jedes im Auto tödlich verunglückte Kind eines zu viel, und es ist richtig und wichtig, dass wir als Eltern, aber auch wir als Gesellschaft alles daran setzen die Sicherheit unserer Kinder im Auto noch weiter zu erhöhen. Ein wichtiger Baustein können dabei so genannte Reboarder sein, also Autositze, in denen Kinder bis ins fünfte Lebensjahr hinein noch entgegen der Fahrtrichtung sitzen wie einst in der Babyschale. Aktuelle Crashtests, aber auch simple physikalische Berechnungen legen nahe, dass Kinder auf diese Weise im Falle eines Aufpralls besonders gut geschützt sind. Der Grund: Ihr Kopf wird bei einem Unfall nicht unkontrolliert nach vorne geschleudert, sondern direkt von dem schützenden Sitz aufgefangen. In Skandinavien fahren Kinder deshalb schon seit vielen Jahren so lange es geht rückwärts, in Deutschland kommt der Trend erst langsam an.

Und wie das so ist mit neuen Erkenntnissen: Es dauert seine Zeit, bis sich das Ungewohnte gegen das Vertraute durchsetzt. In ganz normalen Babymärkten dominieren nach wie vor die nach vorne gerichteten Kindersitze das Bild, auch Automobilclubs und Warentester werden nur langsam mit den neuen Sitzen warm, und vielen Eltern sind die verhältnismäßig teuren und sperrigen Reboarder sowieso erstmal suspekt: Ist es für Kinder nicht total langweilig, immer nur nach hinten zu gucken? Wird ihnen da nicht schlecht? Und trampeln sie dann nicht ständig mit ihren Kindergartenmatschschuhen gegen die schönen Rückenlehnen?

Wer sich ein bisschen in das Thema hineinfuchst, merkt schnell, dass sich die meisten dieser Bedenken leicht ausräumen lassen. Neben den typischen eher klobigen Reboarder-Vorreitern gibt es mittlerweile auch leichtere und handlichere Sitze, so dass sich in (fast) jedes noch so kleine Auto ein rückwärts gerichteter Kindersitz einbauen lässt. Für die Rückenlehnen gibt es Schoner, für den Blickkontakt Spiegel, und den meisten Kindern wird beim Rückwärtsfahren auch nicht schlecht.

Meinen Mann und mich haben die Argumente Pro Reboarder jedenfalls so überzeugt, dass wir – nachdem unsere beiden heute neun und sieben Jahre alten  Töchter beide nach dem Babyalter vorwärts fuhren, weil wir dazu gar keine Alternative kannten – uns zur Geburt unseres dritten Babys von den Großeltern einen Reboarder gewünscht haben, in dem unser Kleiner noch viele Jahre fahren wird.

Die Argumente für Reboarder sind stark und gut. Aber sie haben nichts mit bindungsorientierter Elternschaft zu tun.

So weit, so wunderbar. Allein: Was hat das mit Attachment Parenting zu tun?

Nun: „Attachment Parenting“-Eltern wollen ihre Sache gemeinhin besonders gut machen. Es ist kein Zufall, dass wir bedürfnisorientierten Mütter und Väter eine besondere Affinität zu besonders sicheren, besonders umweltfreundlichen, besonders fair hergestellten, besonders hochwertigen Produkten haben. Uns ist eben für unsere Kinder oft nur das Beste gut genug. Und so wundert es mich auch nicht, dass in „Attachment Parenting“-Gruppen auf Facebook besonders engagiert für Reboarder geworben wird. Problematisch wird es für mich allerdings, wenn die Entscheidung für oder gegen einen Reboarder zum heiligen Gral bedürfnisorientierter Elternschaft erhoben wird.

Denn noch mal: Attachment Parenting ist eine Elternschaftsphilosohie, in der es um Bindung durch Nähe geht. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Sicherheit, für die „Attachment Parenting“ steht, ist eine emotionale Sicherheit. Das Gefühl, geschützt und geborgen zu sein. Andere Sicherheitsfragen sind nicht weniger bedeutsam – aber sie sind keine Frage des persönlichen Elternschaftsstils. Oder anders gesagt: Es gibt jede Menge bedürfnisorientierte Eltern mit vorwärts gerichteten Kindersitzen. Und vielleicht ähnlich viele Eltern, die mit Attachment Parenting nichts zu tun haben, aber trotzdem aus Sicherheitsgründen einen Reboarder kaufen.

Wer „Attachment Parenting“ und Reboarder miteinander verknüpft, begeht deshalb aus meiner Sicht gleich zwei fatale Fehler. Der erste: Eltern fühlen sich angegriffen und abgeschreckt statt ernst genommen und eingeladen. Denn die meisten Eltern haben heute nun einmal vorwärts gerichtete Sitze im Auto, und reagieren mit gutem Grund verletzt wenn ihnen dann vorgeworfen wird ihre Kinder mehr oder weniger in fahrenden Todesfallen zu transportieren. Der zweite Fehler ist, zu meinen, uns bedürfnisorientierten Eltern läge die Sicherheit unserer Kinder stärker am Herzen als anderen Eltern. Denn so fremd uns das Weltbild einer „Ferber-Mom“ auch sein mag: Natürlich liebt sie ihr Kind nicht weniger als wir! Zu behaupten, dass Reboarder zum „Attachment Parenting“ gehören, wird aber genau diese Mutter womöglich davon abhalten, einen solchen Sitz zu kaufen – schließlich ist der ganze andere „Attachmentr Parenting“-Kram ja auch nichts für sie. Sie braucht kein Tragetuch, kein Stillkissen, keine Stoffwindeln – warum sollte sie da ausgerechnet in so einen teuren Kindersitz investieren, der jetzt gerade das Muss der Öko-Familien zu sein scheint?

Reboarder sind nicht die neuste Mode für Öko-Eltern – genau so wirken sie aber, wenn wir sie als unerlässlichen Teil unseres bindungsorientierten Familienlebens präsentieren.

Lasst uns das eine lieber sauber vom anderen trennen.

Wir „Attachment Parenting“-Familien leben einen bindungs- und bedürfnisorientierten Umgang mit unserem Kind. Punkt.

Aber alle Familien – ganz egal ob „Attachment Parenting“-affin oder nicht – sollten sich aber darüber informieren, wie sie ihr Kind möglichst sicher groß werden lassen können.

Schaut man sich die aktuellen Unfallstatistiken an, ist es deshalb unabhängig von jeder Elternschaftsphilosophie eine gute Idee

  • – Kinder nur in guten, sicheren Kindersitzen im Auto mitzunehmen
  • – Kinder nur mit Helm Laufrad und Fahrrad fahren zu lassen
  • – Kinder nie allein im oder am Wasser zu lassen, auch nicht in der Badewanne oder im Plantschbecken im Garten
  • – in jedem Zimmer, in dem Kinder schlafen, einen Rauchmelder anzubringen.

Welche Sicherheitsmaßnahmen wann und wo notwendig sind, muss jedoch jede Familie für sich selbst einschätzen. Und es steht uns nicht zu, vom Blick in auf die Rückbank eines Autos abzuleiten, ob hier „Attachment Parenting“-Eltern unterwegs sind. Denn liebevoll und bindungsorientiert können Eltern immer und überall sein – auch an Orten, wo es bis heute keine Kindersitze gibt .