Lügen haben kurze Beine. Manchmal sind sie zum Beispiel 50 Zentimeter kurz, gehören meiner vierjährigen Tochter und stehen mitten in einer großen Apfelsaftpfütze. Die Beweislage ist erdrückend: In ihrer linken Hand hält Annika noch den Tetrapack, in der rechten ihren Trinkbecher, darunter schimmert der Saftsee. Doch das hindert meine Tochter nicht daran, mir fest ins Gesicht zu blicken und zu behaupten: „Das war ich nicht!“
Wie kommt es nur, dass unser Kind in der letzten Zeit so viel lügt? Über diese Frage habe ich mir in den vergangenen Monaten ziemlich viele Gedanken gemacht. Und bin dabei auf einige Erkenntnisse gestoßen, dank denen ich die Flunkereien unserer Jüngsten heute in einem ganz neuen Licht sehe – und viel entspannter mit ihnen umgehen kann.

1. Praktisch alle Kinder lügen
„Annika, wo hast du dieses Auto her?“ – „Das hab ich geschenkt bekommen. Im Kindergarten. Wirklich!“ Ganz schön peinlich, dann am nächsten Tag durch Zufall mitzubekommen, dass das blaue Matchboxauto keineswegs ein Geschenk war. Sondern Max gehörte, in dessen Fach es auch zuletzt gesehen worden war – bevor es im rosaroten Rucksack meiner Tochter verschwand. In solchen Momenten (und besonders unter den strengen Blicken von Max‘ Mutter) fragte ich mich panisch, ob wir irgendwas in der Erziehung verbockt hatten, weil unsere Kleine so ohne jedes Unrechtsbewusstsein schwindelte. Wie entlastend ist da das Ergebnis einer Studie, die der kanadische Psychologe Prof. Dr. Ken Lee mit 1200 Kindern im Alter zwischen zwei und 16 Jahren durchgeführt hat: „Praktisch alle Kinder im Kindergartenalter lügen“, sagt er. „Und das ist kein Grund zur Sorge. Im Gegenteil: Es bedeutet, dass sie einen wichtigen und altersgerechten Entwicklungsschritt geschafft haben.“

2. Lügen ist ein Zeichen von Intelligenz
Schwindeln ist nämlich eine ganz schön komplizierte Angelegenheit. Schließlich muss man dazu zwei Versionen der Wirklichkeit gleichzeitig in seinem Gehirn jonglieren – die wahre, die man verschleiert, und die erfundene, die man als Wahrheit verkaufen will. „Wenn Kindergartenkinder gut lügen können, ist das deshalb ein Zeichen besonderer kognitiver Reife“, hat Prof. Lee festgestellt. Auch kleine Schimpansen gaukeln sich übrigens gegenseitig was vor und tricksen sich etwa bei der Futtersuche aus, um selbst mehr süße Leckerbissen abzubekommen – was dafür spricht, dass es sich beim Lügen und Schummeln tatsächlich angeborene Verhaltensmuster handelt. Und das, sagt Volker Sommer, Professor für Evolutionäre Anthropologie an der University of London, hat einen guten Grund: Lügen macht Kinder nämlich schlauer. Denn wer weiß, dass das Gegenüber nicht immer die Wahrheit sagt, hört genauer hin und überprüft, ob das Behauptete auch stimmen kann. Zu lügen ist für Annika also ein „Wetzstein für den Verstand“, wie es Sommer formuliert. Denn wer selbst Erfahrung im Schwindeln hat, lernt zwischen richtig und falsch, wahr und unwahr zu unterscheiden.

3. Lügen macht Kinder empathisch
Als ich vergangene Woche vom Elternabend nach Hause kam, und mein Mann mir erzählte, dass er unseren Kindern nach dem Abendessen noch das von mir versprochene Eis erlaubt habe, staunte ich nicht schlecht: Eis versprochen? Ich? Im Gegenteil: Die Kinder hatten am Nachmittag bereits eins von mir bekommen, zusammen mit dem Hinweis: Damit ist für heute aber Schluss mit Süßigkeiten! Du kleiner Schelm, dachte ich, als mein Mann mir erzählte, wie treuherzig Annika ihm versichert habe, der süße Nachtisch sei mit Mama abgesprochen. Doch aus entwicklungspsychologischer Sicht hatte Annika mit ihrer Lügengeschichte eine kleine Meisterleistung hingelegt. Denn um ihren Papa so auszutricksen, musste Annika klar sein: Ich weiß, was Mama heute Nachmittag gesagt hat. Aber Papa nicht. Und weil Mama gerade nicht da ist, kann ich ihm meine Version der Geschichte unterjubeln.
Um so denken zu können, muss Annika verstanden haben, dass jeder Mensch sein eigenes Bild von der Welt hat. Dreijährige können das noch nicht: Sie gehen davon aus, dass ihre eigene Weltsicht die einzig mögliche ist. „Sich in andere Menschen hineinversetzen zu können ist deshalb die Grundvoraussetzung fürs Lügen“, erklärt deshalb der Psychologe Josef Perner von der Universität Salzburg. Wenn Kinder mit etwa vier Jahren in der Lage seien, ihren eigenen Wissensvorsprung auszunutzen, um andere auszutricksen, sei das ein wichtiger Schritt hin auf dem Weg zum Einfühlungsvermögen. „Denn auf diese Weise lernen Kinder, dass jeder Mensch seine eigene Sicht der Dinge hat, die sich von ihrer eigenen Lebenswirklichkeit unterscheiden kann“, so Perner.

4. Kinderlügen sind unglaublich kreativ
Meine Tochter hat kürzlich ein Einhorn getroffen, das war wirklich arm dran. Es konnte nämlich nicht richtig sehen, weil ihm doch seine lange, goldene Mähne so in die Augen hing. Kann man sich etwas Traurigeres denken? Klar, dass mein liebevolles Kind ihm da zu Hilfe kam und ihm zwei Lillifee-Haarclips und ein rosa Haargummi schenkte. So lautet zumindest Annikas Erklärung für das wundersame Verschwinden derselben irgendwo zwischen Kindergarten, Spielplatz, und Zuhause. Eine Lügengeschichte? Kann man so sehen, muss man aber nicht. Schließlich sind Kinder zwischen drei aus entwicklungspsychologischer Sicht in der so genannten magischen Phase, in der für sie die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit leicht verschwimmen. Da liegt es doch nahe, sich die Wirklichkeit manchmal ein wenig märchenhafter zu träumen und dadurch so alltäglichen Dingen wie verlorenen Haarspangen einen ungeahnten Glanz zu verleihen.

5. Lügen sind ein Liebesbeweis
Die Lügen meiner Tochter sind meistens geradezu rührend in ihrer Durchschaubarkeit. Zum Beispiel die, mit der sie mir mit schokoladenverschmiertem Mund weismachen wollte, dass nicht sie die Schokoladenkekse aus dem Küchenschrank geklaut hat. „Das war der Räuber Hotzenplatz, Mama!“, sagte sie mit beschwörender Stimme. „Ich hab’s genau gesehen: Hier ist er zum Küchenfenster reingeklettert, dann mit dem Stuhl so hochgestiegen, und dann hat er die Kekse mitgenommen. In seinem Sack nämlich. Ehrlich, Mama!“ Früher dachte ich: Wer sich so die Wirklichkeit zurechtbiegt, ist sich keiner Schuld bewusst. Heute weiß ich: Gerade wenn kleine Kinder wissen, dass sie etwas falsch gemacht haben, fangen sie an zu lügen. Dann nämlich wollen sie das, was passiert ist, um jeden Preis ändern, und nutzen dazu die Kraft ihrer Fantasie. „Das war ich nicht“ heißt bei Kindergartenkindern deshalb nichts anderes als: „Ich wünschte, ich wäre es nicht gewesen.“ Und jede noch so wilde Räuberpistole ist letztlich nichts anderes eine Aussage darüber, wie die Wirklichkeit hätte sein sollen. Dann nämlich hätte Max Annika sein blaues Matchboxauto tatsächlich einfach geschenkt, Mama hätte ein zweites Eis zum Nachtisch versprochen, ein trauriges Einhorn hätte sich über die Lillifee-Haarspängchen gefreut und der Räuber Hotzenplotz hätte unsere Schokoladenkekse geklaut (natürlich nicht ohne Annika bei seinem waghalsigen Sprung von unserem Balkon noch einige davon zuzuwerfen). „Für dein Kind ist das Aufrechterhaltung der guten Stimmung viel wichtiger als die objektive Wahrheit“, schreibt deshalb die Erziehungsexpertin Julia Dibbern in ihrem Buch „Kleine Lügner, kleine Diebe“. „Es weiß genau um den verzapften Unsinn und möchte bei dir trotzdem in gutem Licht dastehen. Das ist eine große Ehre für dich.“

Als Annika in der Apfelsaftpfütze stand, für die sie angeblich nichts konnte, habe ich deshalb nicht auf die Wahrheit gepocht, sondern einfach nur zwei Putzlappen geholt. „Na, war das auch wieder der Räuber Hotzenplotz?“, fragte ich, als wir nebeneinander auf dem Küchenfußboden knieten und den Saft aufwischten. Annika schüttelte den Kopf. „Vielleicht“, sagte sie dann nachdenklich, „könnte es doch sein, dass mir das passiert ist. Aus Versehen, beim Einschenken, weißt du, Mama. Aber nur vielleicht.“ „Natürlich“, sagte ich. „Natürlich nur vielleicht.“

Dieser Artikel erschien erstmals vor vier Jahren in der Zeitschrift ELTERN family.